Die Idee der Ganztagsschule ist nicht neu.
Im 19. Jahrhundert war der ganztägige Unterricht an den Schulen im Deutschen Reich die Regel. Politische und ökonomische Entwicklungen (wie z.B. Kinderarbeit in der Landwirtschaft und der Industrie) führten dazu, dass sich das Konzept der Halbtagsschule entwickelte, das bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Bestand hatte. Erst 1970 tauchte das Thema „Ganztagsschule“ im „Strukturplan für das Bildungswesen“ des Deutschen Bildungsrats wieder auf (Deutscher Bildungsrat 1973) – und zwar als Reformprojekt. Doch Kritik von Seiten der Länder machte sich breit und verlangsamte den „Ausbau“-Prozess bis zur Jahrhundertwende.
Der Aufbruch zu Beginn des 21. Jahrhunderts: Das Investitionsprogramm 2003 und der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ab 2026
Das steigende Interesse junger Familien, für die die Einschulung der eigenen Kinder eine Betreuungslücke mit sich brachte, führte zu einer verstärkten Nachfrage nach Ganztagsschulangeboten.
Verstärkt wurde diese Nachfrage durch die Veröffentlichung der PISA-Studie aus dem Jahr 2000 (Artelt et al., 2001). Die Ergebnisse verdeutlichten, dass der Bildungserfolg, insbesondere in Deutschland, von sozialen Herkunftsmerkmalen wie Schicht, Migrationshintergrund und Geschlecht abhängt. Kinder und Jugendliche werden, auch im Vergleich zum Ausland, in der Schule zu wenig gefördert. Ganztagsschulen bieten in diesem Zusammenhang einen geeigneten Rahmen für den Ausbau an individueller Förderung (Solga & Dombrowski, 2009).
Ausgehend von der erhöhten Nachfrage nach Ganztagsschulangeboten brachte die Bundesregierung 2003 ein 4 Mrd. Euro schweres Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ (IZBB) auf den Weg. Dies führte dazu, dass alle Bundesländer in den beiden ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts ihre Ganztagsschulangebote ausbauten. Die Ganztagsschulbeteiligung stieg demzufolge von 9,8 % (2002) auf 47,2 % (2020) an, mit einer bundesweiten Spannbreite von 17,3 % in Bayern und 93,9 % in Hamburg (Klemm, 2022).
Zur Bereitstellung weiterer finanzieller und struktureller Mittel für den Ausbau an Ganztagsschulangeboten wurde 2021 der Rechtsanspruch auf Ganztagsförderung (im Rahmen des Ganztagsförderungsgesetzes) beschlossen. Dieser sieht vor, dass ab August 2026 zunächst alle Grundschulkinder der ersten Klassenstufe einen Anspruch erhalten, ganztägig gefördert zu werden. Der Anspruch wird in den Folgejahren um je eine Klassenstufe ausgeweitet. Mit dem Ganztagsförderungsgesetz zielt die Bundesregierung darauf ab, die strukturelle Vereinbarkeit von Familie und Beruf sicherzustellen sowie zur Chancengerechtigkeit beizutragen.
Das Konzept der Ganztagsschule in Deutschland
Gemäß der Kultusministerkonferenz (KMK) sind Ganztagsschulen Schulen, bei denen im Primar- und Sekundarbereich I…
- an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot für die Schüler:innen bereitgestellt wird, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst,
- an allen Tagen des Ganztagsschulbetriebs den teilnehmenden Schüler:innen ein Mittagessen bereitgestellt wird,
- die Ganztagsangebote unter der Aufsicht und Verantwortung der Schulleitung organisiert und in enger Kooperation mit der Schulleitung durchgeführt werden sowie in einem konzeptionellen Zusammenhang mit dem Unterricht stehen (KMK, 2021a).
Dabei unterscheidet die Kultusministerkonferenz zusätzlich drei Formen der Ganztagsschule:
- die voll gebundene Form, bei der alle Schüler:innen verpflichtet sind, an den Ganztagesangeboten teilzunehmen.
- die teilweise gebundene Form, bei der sich ein Teil der Schüler:innen (z.B. einzelne Klassen oder Klassenstufen) verpflichtet, an den Ganztagesangeboten teilzunehmen.
- die offene Form, bei denen den Schüler:innen die Teilnahme an Ganztagesangeboten freigestellt wird.
Blick in die Zukunft der Ganztagsschule
Der starke Geburtenanstieg der letzten Jahre sowie eine hohe Wanderungsbilanz Mitte der zehner Jahre wird zu stark ansteigenden Schüler:innenzahlen und somit einem steigenden Bedarf an Ganztagsschulplätzen führen. Gleichzeitig, so prognostiziert es die KMK (2021b), werden auch in den nächsten Jahren Lehrer:innen fehlen – Tendenz steigend. Somit stehen dem Ausbau von Ganztagsschulen viele Herausforderungen bevor.
Und nicht zuletzt ist die Frage, ob Ganztagsschulen wirken, bisher leider nicht abschließend zu beantworten. Bisherige Studien liefern Hinweise auf eine gemischte Befundlage (Heyl et al., 2021).
Herr Kielblock hat in seinem „wissenschaftsgeleiteten Qualitätsdialog zum Ganztag“ sechs Handlungsfelder identifiziert, die für die Wirkung von Ganztag entscheidend sind:
- Steuerung
- Zusammenarbeit
- Gesamtkonzept des Ganztagsangebots
- Angebotskonzepte
- Angebotsdurchführung
- Soziale Beziehungen
(Klitzsch, 2022).
Daran wird deutlich, dass die Entwicklung „guter“ Ganztagsangebote einen hochkomplexen und zugleich für jede Schule individuellen Prozess darstellt.
Dieser Prozess ist herausforderungsvoll, denn letztlich bedeutet eine wirksame gute Ganztagsschule große Veränderungen. Veränderungen wiederum sind oft schwer und erzeugen Widerstände. Wir von Eduhu unterstützen dich und deine Schule gerne bei den Veränderungsprozessen. Schreib uns eine E-Mail oder eine Nachricht über unser Kontaktformular!
Quellen – Ganztagsschule
Artelt, C., Baumert, J., Klieme, E., Neubrand, M., Prenzel, M., Schiefele, U., Schneider, W., Schümer, G., Stanat, P., Tillmann, K.-J., Weiß, M. (Hrsg.) (2001). PISA 2000 – Zusammenfassung zentraler Befunde. Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin.
Heyl, K., Hirsch, A., Fischer, N. & Rollett, W. (2021). Individuelle Entwicklung von Schüler:innen – Wirksamkeit von Ganztagsschule in Deutschland. In: Brisson, B., Kielblock. S., Wazinski, N. (Hrsg.). GTS-Bilanz – Qualität für den Ganztag. Weiterentwicklungsperspektiven aus 15 Jahren Ganztagsschulforschung. DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation.
Klemm, K. (2022). Zur aktuellen Situation der Ganztagsschulen in Deutschland Oder: Von der Expansion zur Stagnation. Bertelsmann Stiftung.
Klitzsch (2022). „Guter Ganztag ist nicht gleich guter Ganztag“ – Interview mit Bildungsforscher Dr. Stephan Kielblock. Campus Schulmanagement.
Kultusministerkonferenz (2021a). Allgemeinbildende Schulen in Ganztagsform in den Ländern in der Bundesrepublik Deutschland – Statistik 2016 bis 2020. Berlin (und frühere Jahrgänge).
Kultusministerkonferenz (2021b). Vorausberechnung der Zahl der Schüler/-innen und Absolvierenden 2020 – 2035. Berlin.
Schmitz, L. (2022). Ganztagsschulen fördern die Entwicklung sozialer Fähigkeiten von Grundschüler*innen. DIW Wochenbericht 48 / 2022, S. 635-642.
Solga, H. & Dombrowski, R. (2009). Soziale Ungleichheiten in schulischer und außerschulischer Bildung: Stand der Forschung und Forschungsbedarf. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf.